Heute scheint sich die westliche Welt, allen voran die Vereinigten Staaten,
inmitten einer klassischen Girard’schen Opferkrise zu befinden. Einst verlässliche soziale Institutionen zerbröckeln. Die Öffentlichkeit verliert das Vertrauen in ihre politischen, finanziellen, rechtlichen und medizinischen Autoritäten. Die neue Generation ist ärmer und kränker als die letzte. Nur wenige, egal welcher politischen Überzeugung, glauben, dass die Gesellschaft funktioniert oder dass wir auf dem richtigen Weg sind. Vernunft, Märkte und Technologie haben es nicht geschafft, ihr utopisches Versprechen einzuhalten. Die Götter haben uns im Stich gelassen, und wir ahnen, dass aus ihren Schatten Ungeheuer zutage treten: der ökologische Kollaps, das nukleare Armageddon, die Vergiftung unserer Körper, unseres Geistes und unserer Welt. Die schwelenden Differenzen und Rivalitäten, die einst von einem allgemeinen bürgerlichen Konsens im Zaum gehalten wurden, nehmen eine neue Intensität an, während jede Seite immer militanter wird. Während das Vertrauen in die Fähigkeit des Staates, das Böse in Schach zu halten, schwindet, werden latente rituelle Instinkte wieder lebendig.
Der Philosoph René Girard vertrat die Ansicht, dass diese rituellen Instinkte
auf soziale Umwälzungen zurückgehen, bei denen ausufernde Rachezyklen – die ursprüngliche Krankheit der Gesellschaft – in vereinigende Gewalt gegen die zum Sündenbock gemachten Opfer umgewandelt wurden. Rituale, Religionen, Feste und politische Institutionen entwickelten sich, um zu verhindern, dass sich ähnliche Ausbrüche wiederholen.
Eines dieser rituellen Muster, die Girard identifiziert, ist das „Antifestival“, bei dem „den Riten der Opfervertreibung nicht eine Periode rasender Anarchie vorausgeht, sondern eine extreme Einschränkung und eine strengere Überwachung der Einhaltung aller Verbote“. In der Neuzeit nimmt dies im Totalitarismus eine erweiterte institutionelle Form an. Sowohl der sowjetische Kommunismus als auch der Nazifaschismus hatten einen stark puritanischen Anstrich, da beide allem, was außerhalb ihrer eigenen Ordnung stand, feindlich gegenüberstanden. Der Faschismus ist im Wesentlichen ein erweitertes Antifestival, und er entsteht, wie das Antifestival, als Reaktion auf einen drohenden sozialen Zusammenbruch, ob er nun wirklich oder eingebildet ist. In vielen Gesellschaften nutzt die Priesterkaste jede Gelegenheit, um diese strengen Verbote, Tabus und Rituale durchzusetzen, die schließlich ihre eigene Macht vergrößern. Die beste Möglichkeit ist eine Krise, die auf das sündige Verhalten der Menschen zurückgeführt werden kann: eine Krise wie ein Erdbeben, eine Flut oder… eine Seuche.
Heute scheinen wir aus einer langen Reihe von Antifestivals, auch bekannt als „Lockdowns“, zumindest teilweise wieder aufzutauchen. Sie gingen einher mit totalitären Tendenzen und einer quasi-faschistischen Feindseligkeit gegenüber echten Festen oder überhaupt gegenüber allem, was einem öffentlichen Vergnügen ähnelt. Darüber hinaus haben viele unserer Maßnahmen im Bereich
der öffentlichen Gesundheit einen ausgeprägten rituellen Charakter und teilen sowohl mit dem Faschismus als auch mit zahlreichen archaischen Antifestivals die Besessenheit von der „Verunreinigung“. Man beachte die folgende Passage des Anthropologen James Frazer aus dem frühen 20. Jahrhundert mit dem Titel “The Collapse of the Nredom Tribe: A Case of Religious Hysteria”.
Jenkins’ Chronik beginnt zu einem Zeitpunkt, als der „Stamm“ Nredom (in Wirklichkeit eine bevölkerungsreiche und gut organisierte Gesellschaft) bereits Anzeichen des sozialen, politischen und ökologischen Niedergangs zeigte. Jahrelang hatten die Priester davor gewarnt, dass böse Geister kurz davor stünden, das Volk anzugreifen. Im dritten Jahr von Jenkins’ ethnografischem Aufenthalt erkrankten schließlich einige Mitglieder des Stammes. Ein böser Geist war im Anmarsch! Wie die Priester erklärten, konnte der Geist von jedem Besitz ergreifen, der sich nicht an verschiedene neue Tabus hielt und notwendige Rituale nicht durchführte. Sobald eine Person von dem Geist besessen war, wurde sie unrein und lief Gefahr, den Geist auf jeden zu übertragen, mit dem sie verkehrte. Niemand konnte den Geist ohne spezielle zeremonielle Werkzeuge sehen, wie sie die Priester besaßen, aber sie fertigten Zeichnungen von ihm an, um sie der Bevölkerung zu zeigen.
Es wurde ein Ritual entwickelt, um festzustellen, ob eine bestimmte Person von dem Geist besessen war. Ein speziell geweihter Stab wurde mit den Körperflüssigkeiten der Person befeuchtet, die der Besessenheit verdächtigt wurde, und dann zu einer besonderen Hütte geschickt, wo die Priester den Stab weiteren divinatorischen Ritualen unterzogen, um den bösen Geist zu zwingen, sich zu offenbaren. Daraufhin benachrichtigten Vertreter der Priester den unglückseligen Stammesangehörigen über seine Besessenheit. Jeder, der als besessen galt, musste vierzehn Tage lang strikt vom Rest des Stammes getrennt bleiben.
Einige der Tabus und Rituale, die die unglücklichen abergläubischen Eingeborenen anwandten, waren recht bizarr. So ließen die Priester an allen öffentlichen Plätzen Markierungen im Abstand einer Fadenlänge anbringen und verlautbarten, dass jeder, der den Abstand zwischen den Markierungen zum nächsten Menschen einhielt, magischen Schutz genösse. Sie verlangten auch, dass jeder, der in die Nähe von Unreinen kommen könnte, häufige rituelle Waschungen und andere Formen der körperlichen Reinigung vornehmen und verschiedene Formen zeremonieller Kopfbedeckungen tragen sollte, um die Geister abzuschrecken. Alle öffentlichen Versammlungen waren verboten, und selbst die normalen Lebensfunktionen wurden stark eingeschränkt. Keine Tätigkeit war erlaubt, außer mit der ausdrücklichen Genehmigung durch die Priester.
Wie Sie sich vorstellen können, führte dieses Regime zu starkem sozialem Stress, Entbehrungen und einem gewissen Maß an Widerstand. Bald waren die Priester damit beschäftigt, verschiedene Ketzereien auszumerzen. Einige Ketzer behaupteten, dass die Rituale zur Unterbindung der Übertragung des bösen Geistes nicht funktionieren würden oder dass der Geist nicht so gefährlich sei. Andere zweifelten gar an der Existenz des bösen Geistes und behaupteten, die erhöhte Krankheitsrate sei auf eine andere Ursache zurückzuführen. Wieder andere verkündeten lautstark, der böse Geist sei von den Priestern selbst auf die Bevölkerung losgelassen worden. Die sozialen Spannungen nahmen zu, als die Priester versuchten, die Ketzer zum Schweigen zu bringen und die Bevölkerung gegen sie aufzuwiegeln.
Die meisten Stammesangehörigen vertrauten den Priestern, aber viele hegten offenbar auch Zweifel, denn die Rituale wurden nicht konsequent eingehalten. Da die Priester wussten, dass die öffentliche Ablehnung des strengen Regimes von Tabus und Ritualen unvermeidlich war, kündigten sie an, ein neues Sakrament zu entwickeln, einen magischen Trank, der den Empfänger für immer vor Besessenheit schützen würde. Der Zaubertrank, der von einem beauftragten Priester durch ein leicht schmerzhaftes Ritual der Hautdurchdringung verabreicht wurde, weihte alle, die ihn erhielten. Diese geweihten Brüder konnten wieder am normalen Leben teilnehmen, auch wenn sie sich weiterhin an bestimmte neue Rituale und Tabus halten mussten. Diejenigen, die den Trank verweigerten, blieben unrein und mussten alle möglichen Strafen, Schande und Ächtung erdulden.
Leider erwies sich der neue Trank als weniger wirksam als von den Priestern ursprünglich versprochen. Den Priestern zufolge lauerten bereits andere Geister und Gespenster, gegen die neue Rituale und Tabus angewendet und neue Tränke verabreicht werden mussten. Die Macht, die den Priestern in dieser Zeit der Krise verliehen worden war, müsse von Dauer sein. Und, wie sie düster andeuteten, war diese Plage des Bösen eine Art Strafe für die Sünden des Stammes, insbesondere die Sünden der Ketzer. Die Ketzerei muss ausgerottet werden! Die Unreinen müssen geweiht werden! Bald fegten religiöse Pogrome über das Land, gefolgt von Gegenpogromen gegen die Priester selbst. Und die nredomische Gesellschaft brach zusammen.
Okay, ich gebe es zu: Ich habe diese Passage frei erfunden. Die Priester sind die Wissenschaftler. Der Stab ist der PCR-Testabstrich. Die Unreinen sind diejenigen, die positiv getestet werden. Der Trank ist der Impfstoff. Ich will damit nicht sagen, dass Corona nur religiöse Hysterie ist. Ich will damit sagen,
dass Corona, was immer es sonst noch sein mag, auch religiöse Hysterie ist,
und dass diese Sichtweise unsere gegenwärtige Situation und höchstwahrscheinlich auch kommende Ereignisse sehr gut erklärt. Unsere gesellschaftlichen Reaktionen auf Corona haben eine so auffällige Ähnlichkeit mit rituellen Praktiken und Vorstellungen (Masken, Tränke, tabuisierte Personen, Weihung usw.), dass wir uns fragen müssen, wie viel von unserer staatlichen Gesundheitspolitik wirklich wissenschaftlich ist und wie viel verkappte Religion. Vielleicht könnte dies sogar zu einer tieferen Frage führen: wie und ob sich die Wissenschaft von (anderen) Religionen unterscheidet. Bevor Sie jetzt protestieren: „Lächerlich. Was ist mit der Objektivität? Der wissenschaftlichen Methode? Peer Review?“, lesen Sie bitte diese Erklärung. Die Idee kann nicht mit trivialen Gründen abgetan werden.
Ich zögere, irgendetwas als „nur ein Ritual“ zu bezeichnen, eine Ablehnung, die die geheimnisvolle Beziehung zwischen Ritual und Realität ignoriert; die zweifelhafte Wirksamkeit vieler unserer Praktiken im Bereich der öffentlichen
Gesundheit verleitet jedoch zu dem Urteil, dass sie in der Tat „nur Rituale“ sind. Ich werde hier nicht versuchen, ein Argument dafür zu finden, dass Masken, Lockdowns, Abstandhalten und so weiter fragwürdig sind. Letztlich geht es darum, ob unsere Systeme der Wissensproduktion (Wissenschaft und Journalismus) intakt sind und ob unsere medizinischen und politischen
Autoritäten vertrauenswürdig sind. Wer die Orthodoxie des öffentlichen Gesundheitswesens in Frage stellt, beantwortet diese Frage mit Nein: Sie sind nicht solide, sie sind nicht vertrauenswürdig. Jeder, der dies versucht, muss zwangsläufig Beweise von außerhalb der offiziellen Institutionen heranziehen – Beweise, die für die wahren Gläubigen per definitionem illegitim sind.
Und mit von den Priestern genehmigten Informationen wird man kaum beweisen können, dass sie im Unrecht sind. Wenn man es versucht, wird man als Ketzer entlarvt.
Ein moderner Begriff für einen Ketzer ist „Verschwörungstheoretiker“. Der
Begriff gehört in Anführungszeichen, denn es ist eine Sache, zu behaupten,
dass unsere Institutionen nicht intakt sind, und eine ganz andere, zu behaupten, dass dem eine bewusste Verschwörung zugrundeliegt. Der Begriff „Verschwörungstheoretiker“ ist zu einer der Methoden geworden, mit denen Andersdenkende, die der Orthodoxie im Gesundheitswesen widersprechen, abgetan und entmenschlicht werden.
Es ist alarmierend, wie schnell Abweichungen von der covidischen Orthodoxie
in untermenschliche Kategorien eingeordnet werden. Genau das ist es, was nötig ist, um sie auf ihre Rolle als Girard‘sche Sündenböcke vorzubereiten. Es ist ein uralter menschlicher Reflex in Zeiten der Not, Ketzer und Ausgestoßene zu finden oder zu schaffen. Heute nennt man sie „Maskenverweigerer“, „Impfgegner“, „Wissenschaftsleugner“, „QAnon-Anhänger“,„Verschwörungstheoretiker“, „Covidioten“ und „Extremisten im eigenen
Land“, Menschen,die einer Art virtuellen Pogrom unterworfen werden, das seine Zielpersonen demütigt, beschuldigt und oft digital auslöscht. Und manchmal sind die Folgen mehr als nur digital.
Wie die modernen Faschisten mit ihren Ideen der ethnischen Säuberung
und die modernen Kommunisten mit ihren Parteisäuberungen, waren die
frühen Gesellschaften laut Girard oft besessen von der Idee der Unreinheit. Die
ursprüngliche Verunreinigung war die Gewalt, die sich, einmal in Gang gesetzt, schnell unkontrolliert ausbreiten konnte, ähnlich wie eine Infektion. Um Girard zu zitieren: „Wenn es der Katharsis durch ein Opfer tatsächlich gelingt, die unbegrenzte Ausbreitung der Gewalt zu verhindern, wird in der Tat eine Art Infektion unter Kontrolle gebracht. (…) Die Tendenz der Gewalt, sich auf ein Surrogat zu stürzen, wenn sie ihres ursprünglichen Objekts beraubt wird, kann sicherlich als ein Prozess der Kontamination bezeichnet werden.“ Aus diesem Grund wurden die Opfer oft von der normalen Gesellschaft isoliert und die
bei der Opferung ausgeübte Gewalt erfolgte nach strengen rituellen Vorgaben.
Was totalitäre Gesellschaften, traditionelle Antifestivals und Corona-Lockdowns gemeinsam haben, ist ein Kontrollreflex. Dieser Reflex antwortet auf jedes Scheitern der Kontrolle mit noch mehr Kontrolle. Wenn herbizidresistentes
Unkraut auftaucht, ist die Lösung ein neues Herbizid. Wenn Einwanderer die Grenze überschreiten, bauen wir eine Mauer. Wenn ein Amokläufer in ein verschlossenes Schulgebäude eindringt, machen wir es noch sicherer. Wenn Keime eine Resistenz gegen Antibiotika entwickeln, entwickeln wir neue und stärkere Antibiotika. Wenn Masken die Ausbreitung von Corona nicht verhindern können, tragen wir zwei. Wenn unsere Tabus das Böse nicht in Schach halten, schaffen wir weitere Tabus. Der kontrollierende Geist sieht ein Paradies voraus, in dem jede Handlung und jedes Objekt überwacht, gekennzeichnet und kontrolliert wird. Dann wird es keinen Raum mehr für Schlechtes geben, nichts und niemand wird fehl am Platz sein, jede Handlung wird mit Genehmigung durchgeführt. Jeder wird sicher sein.
Diejenigen, die den Überwachungsprogrammen von Bill Gates und der technokratischen Elite Böswilligkeit unterstellen, sehen nicht den Idealismus, der hinter dem technologischen Programm steht. Die Eliten können ihre Kritiker nicht verstehen In ihren Augen sind sie verblendete, unwissende Feinde des Fortschritts selbst, Feinde der Verbesserung der Menschheit.
Leider – für sie und für uns – ist das Paradies der totalen Kontrolle eine Fata Morgana, die umso schneller wieder schwindet, je schneller wir uns ihr nähern. Je strikter wir eine Ordnung durchsetzen, desto mehr Chaos drängt durch die Spalten. Girard sagte: „Gewalt, die zu lange in Schach gehalten wird, wird
ihre Grenzen überschreiten – und wehe dem, der zufällig in der Nähe ist.“
Dasselbe gilt für andere Aspekte des Wilden: Begehren, Wut, Angst, Eros. Extreme Ordnung erschafft ihr Gegenteil.
Es gibt eine subtile Parallele zwischen der Dynamik des Girard’schen Schlachtopfers und anderen Kontrollprogrammen. Schlussendlich bauen beide auf eine trügerische Vereinfachung, die zwar vorübergehend erfolgreich zu sein scheint aber langfristig das Fortbestehen tieferer Probleme ermöglicht. Die Ursache der Einwanderung sind nicht nur die Einwanderer; die Ursache von Amokläufen in Schulen nicht nur die Schützen; die Ursache von Krankheiten sind nicht nur Krankheitserreger; die Ursache des Klimawandels sind nicht nur Treibhausgase. Sie sind nur die Endpunkte eines langen Prozesses; sie sind die auffälligsten unter einer Vielzahl von Ursachen; über sie kann, wie über einen Sündenbock, relativ leicht Macht ausgeübt werden. Nachdem wir von unserer Macht Gebraucht gemacht haben, sind wir zufrieden, dass etwas getan
wurde.
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