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Charles Eisenstein

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Das Fest ist tot, es lebe das Fest

November 16, 2021 by Charles Eisenstein Leave a Comment

November 2021
Von Charles Eisenstein, Juni 2021 (englische Version) Teil 1 einer mehrteiligen Reihe


Wir leben ein Doppelleben, zivilisiert in wissenschaftlichen und technischen Dingen, wild und primitiv in den Dingen der Seele. Dass wir uns nicht mehr bewusst sind, primitiv zu sein, macht unsere gezähmte Wildheit umso gefährlicher. – Hans von Hentig

Die natürliche Ordnung gerät aus den Fugen. Seuchen, Überschwemmungen, Dürreperioden, politische Unruhen, Krawalle und Wirtschaftskrisen folgen eine auf die andere, bevor sich die Gesellschaft von der letzten erholt hat. Die Fassade unserer Normalität bekommt Risse. Gesellschaften waren im Laufe der Geschichte immer wieder mit solchen Umständen konfrontiert, genauso wie wir es heute sind.

Wir würden gerne glauben, dass wir rationaler und effektiver reagieren als unsere unwissenschaftlichen Vorfahren; stattdessen spielen wir uralte soziale Dramen und Aberglauben im Gewand der modernen Mythologie nach. Kein Wunder, denn die schwerste Krise, vor der wir stehen, ist keineswegs neu.

Keines der Probleme, vor denen die Menschheit heute steht, ist technisch schwer zu lösen. Ganzheitliche Anbaumethoden könnten Boden und Wasser heilen, Kohlenstoff binden, die Artenvielfalt erhöhen und die Erträge steigern, und damit verschiedene ökologische und humanitäre Krisen rasch lösen. Ein temporäres Fischfangverbot in der Hälfte der Weltmeere würde auch diesen die Zeit geben, sich zu erholen. Eine breite Anwendung natürlicher und alternativer Heilmethoden könnte die Sterblichkeit an COVID erheblich verringern und die (objektiv schwerwiegenderen) Plagen der Autoimmunerkrankungen, Allergien und Suchtkrankheiten eindämmen. Neue wirtschaftliche Regelungen könnten die Armut leicht beseitigen. Allen diesen einfachen Lösungen ist jedoch gemeinsam, dass sie auf ein breites Einverständnis der Menschen angewiesen sind. Eine Gesellschaft, die sich über ihre Ziele einig ist und zusammenhält, kann fast alles schaffen. Viel bedrohlicher als der ökologische Zusammenbruch, ernster als der wirtschaftliche Zusammenbruch, schwerwiegender als die Pandemie ist die eigentliche, übergreifende Krise unserer Zeit: die Polarisierung und Fragmentierung unserer Gesellschaft. Mit Zusammenhalt ist alles möglich. Ohne ihn ist nichts möglich.

Der verstorbene Philosoph René Girard war der Ansicht, dass dies schon immer so war: Schon seit Anbeginn der Menschheit gab es keine größere Bedrohung für die Gesellschaft als den Verlust des Zusammenhalts. Der Theologe S. Mark Heim (1) bringt Girards These elegant auf den Punk:

„Besonders in seinen Anfängen ist das gesellschaftliche Leben ein zarter Spross, der Rivalitäten und Rachegelüsten schutzlos ausgeliefert ist. Solange es noch keine Gesetze und Regierungen gibt, können Vergeltungszyklen eskalieren. Das ist die ursprüngliche Krankheit von Gesellschaften, und wenn sie nicht behandelt wird, kann eine Gesellschaft sich kaum festigen.“

Die Geschichte hat hier eine wenig inspirierende Lösung gefunden. Heim fährt fort:

„Wie ein Wunder erscheint das Mittel, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Wenn eine Fehde eine Gemeinschaft zu sprengen droht, kommt es plötzlich zu einem spontanen und irrationalen Gewaltausbruch der Masse gegen eine bestimmte Person oder Minderheit in der Gruppe. Sie werden der schlimmsten Verbrechen beschuldigt, die sich die Gruppe vorstellen kann; Verbrechen, die bereits durch ihre bloße Ungeheuerlichkeit die Notlage verursacht haben könnten, in der sich die Gemeinschaft jetzt befindet. Sie werden gelyncht.“

Das traurige Glück in diesem Unglück ist, dass es tatsächlich funktioniert. Im Zuge des Mordes stellen die Gemeinschaften fest, dass dieser plötzliche Krieg aller gegen einen sie von dem Krieg aller gegen alle bewahrt hat. Die Opferung einer Person als Sündenbock hebt die anstehenden Vergeltungsmaßnahmen auf, sie macht „reinen Tisch“. Der plötzlich eintretende Frieden scheint zu bestätigen, dass die ungeheuren Anschuldigungen gerechtfertigt waren. Wenn der Tod des Sündenbocks die Lösung ist, muss der Sündenbock die Ursache gewesen sein. Dieser Tod hat eine so versöhnende Wirkung, dass es scheint, als müsse Opfer übernatürliche Kräfte besitzen. So wird das Opfer zu einem Verbrecher, einem Gott – oder beidem -, der im Mythos verewigt wird.

In seinem Meisterwerk „Das Heilige und die Gewalt“ beschreibt Girard den Entstehungsprozess von reziproker Gewalt und Anarchie, der dieser Lösung vorangeht, als eine „Opferkrise“. Spaltungen zerreißen die Gesellschaft, Gewalt und Rachsucht eskalieren, die Menschen ignorieren die üblichen Sitten und Moralvorstellungen, und die soziale Ordnung löst sich im Chaos auf. Dies gipfelt darin, dass gegenseitige Gewalt in einstimmig ausgeübte Gewalt umschlägt: Der Mob wählt ein Opfer (oder eine Opfergruppe) zum Abschlachten aus und stellt durch diesen Akt von allgemeinem Einverständnis die soziale Ordnung wieder her.

Das Zeitalter der Vernunft hat dieses tiefsitzende Muster der erlösenden Gewalt nicht überwunden. Die Vernunft dient nur dazu, sie zu rationalisieren; die Industrie macht daraus eine Massenware, und wir laufen Gefahr, dass die Hochtechnologie sie in ungekannte Extreme treibt. In dem Maße, in dem die Gesellschaft komplexer geworden ist, erscheint auch das Thema der erlösenden Gewalt in immer komplexeren Variationen. Doch das Muster kann durchbrochen werden. Der erste Schritt dazu ist, es als das zu erkennen, was es ist.

Das Fest ist tot

Damit sich Opferkrisen in ihrem vollen Ausmaß nicht wiederholen müssen, entstand eine Einrichtung, die es in fast allen Gesellschaften auf der Welt gibt: das Fest. Girard stützt sich auf zahlreiche ethnografische, mythische und literarische Quellen, um darzulegen, dass Feste ursprünglich als rituelle Nachstellungen des Zusammenbruchs der Ordnung und ihrer anschließenden Wiederherstellung durch geeinte Gewaltausübung entstanden sind.

Bei einem echten Fest geht es nicht gerade sittsam zu. Hier werden herkömmliche Regeln, Sitten, Strukturen und Rangunterschiede einfach aufgehoben. Girard erklärt:

„Solche Verstöße [gegen rechtliche, soziale und sexuelle Normen] müssen in ihrem weitesten Zusammenhang gesehen werden: der allgemeinen Beseitigung von Unterschieden. Familiäre und soziale Hierarchien werden vorübergehend unterdrückt oder auf den Kopf gestellt; Kinder respektieren ihre Eltern nicht mehr, Diener ihre Herren, Vasallen ihre Gebieter. Dieses Motiv spiegelt sich in der Ästhetik des Festes wider – in der Zurschaustellung greller Farben, dem Aufmarsch von Transvestiten und den Slapstick-Possen der kunterbunten „Narren“. Für die Dauer des Festes sind unnatürliche Handlungen und unverschämtes Verhalten erlaubt, ja sogar erwünscht

Wie nicht anders zu erwarten, geht diese Aufhebung von Unterschieden oft mit Gewalt und Streit einher. Untergebene beschimpfen ihre Vorgesetzten, verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen tauschen Sticheleien und Beschimpfungen aus. Inmitten der Unordnung toben Streitigkeiten. In vielen Fällen äußert sich das Motiv der Rivalität in Form eines Wettkampfs, eines Spiels oder eines Sportereignisses, das einen quasi rituellen Charakter angenommen hat. Die Arbeit wird unterbrochen, und die Feiernden geben sich Trinkgelagen

und dem Genuss all der Lebensmittel hin, die sie im Laufe vieler Monate angesammelt haben.“

Derartige Feste dienen dazu, den sozialen Zusammenhalt zu festigen und die Gesellschaft an die Katastrophe zu erinnern, die droht, wenn dieser Zusammenhalt ins Wanken gerät. Überbleibsel davon sind bis heute erhalten geblieben, zum Beispiel bei den Fußball-Hooligans, im Straßenkarneval, auf Musikfestivals und in dem an Halloween gebräuchlichen Spruch „Süßes oder Saures!“. Er erinnert an die Zeiten, in denen die bestehende gesellschaftliche Ordnung zeitweise auf den Kopf gestellt wurde. Der Druiden-Experte Philip Carr-Gomm beschreibt Samhuinn, den keltischen Vorläufer von Halloween, folgendermaßen:

„Samhuinn, vom 31. Oktober bis zum 2. November, war eine Zeit außerhalb der Zeit. Die keltische Gesellschaft war, wie alle frühen Gesellschaften, höchst strukturiert und organisiert; jedermann wusste, wo sein Platz war. Aber damit eine solche Ordnung psychisch erträglich sein konnte, wussten die Kelten, dass es eine Zeit geben musste, in der Ordnung und Struktur aufgehoben waren, in der das Chaos herrschen konnte. Und Samhuinn war eine solche Zeit. Während der drei Tage dieses Festes war die Zeit aufgehoben, und die Menschen taten verrückte Dinge, Männer verkleideten sich als Frauen und Frauen als Männer. Die Gatter der Bauern wurden aus den Angeln gehoben und in die Gräben geworfen, die Pferde der Leute wurden auf andere Felder verbracht…“

Ein solches Maß an Anarchie ist in modernen, „fortschrittlichen” Gesellschaften der heutigen Zeit weder an Halloween noch bei irgendeinem anderen Fest oder kulturellen Event erlaubt. Unsere Feiertage wurden gänzlich gezähmt. Das verheißt nichts Gutes. Girard schreibt:

„Hinter der fröhlichen und friedlichen Fassade des entritualisierten Festes, dem jeglicher Bezug auf einen Sündenbock und dessen einende Kraft genommen wurde, steht immer noch die ursprüngliche Opferkrise, die mit reziproker Gewalt einhergeht. Deshalb können echte Künstler immer noch spüren, dass irgendwo hinter den faden Festen, dem geschmacklosen Utopismus der “Freizeitgesellschaft” eine Tragödie lauert. Je trivialer, vulgärer und banaler die Feste werden, desto deutlicher spürt man das Herannahen von etwas Unheimlichem und Schrecklichem.“

Dieser letzte Satz klingt wie eine düstere Prophezeiung. Jahrzehntelang habe ich die immer dekadenter werdenden Feste meines Kulturkreises mit einem Unbehagen beobachtet, das ich nicht recht einordnen konnte. Während ich beobachtete, wie der Abend vor Allerheiligen zu einem minuziös geplanten, von 18 bis 20 Uhr stattfindenden Kinderfest wurde, man die Auferstehungsrituale durch den Osterhasen und Schokoladeneier ersetzte und das Julfest, Weihnachten, sich in eine Konsumorgie verwandelte, hatte ich das Gefühl, dass wir uns in ein Korsett der Banalitäten gezwängt, uns einer totalitären Zahmheit unterworfen hatten, mit der eine immer strengere Ordnung aufrechterhalten werden sollte, die jede Art von Wildheit gänzlich aussperrte. Das Ergebnis, so schien mir, konnte nur eine Explosion sein.

Feste werden nicht nur gebraucht, um Dampf abzulassen. Sie sind notwendig, weil sie uns die Künstlichkeit und Gebrechlichkeit der vom Menschen geschaffenen Weltordnung vor Augen führen, damit wir nicht an ihr verzweifeln.

Der Massenwahn entsteht aus der Unterdrückung einer Wahrheit, die alle kennen. Jeder Mensch weiß, wenn auch nur unbewusst, dass wir nicht die Rollen und Persönlichkeiten sind, die wir im kulturellen Drama des Lebens verkörpern. Wir wissen, dass die Regeln der Gesellschaft willkürlich sind und so aufgestellt wurden, dass das Stück bis zum Schluss gespielt werden kann. Man ist nicht wahnsinnig, wenn man an diesem Schauspiel teilnimmt und seine Kunststückchen auf der Bühne vorführt, bis der Vorhang fällt. Wie ein Schauspieler in einem Film können wir unsere Rollen im Leben hingebungsvoll spielen. Aber wenn der Schauspieler vergisst, dass er eine Rolle darstellt, und sich so sehr in dieser verliert, dass er nicht mehr hinausfindet und den Film mit der Wirklichkeit verwechselt, dann ist das eine Psychose. Wenn wir uns weder von den Konventionen der gesellschaftlichen Ordnung noch von der Rolle, die wir in ihr spielen, ausruhen können, dann drehen wir durch.

Es sollte uns nicht verwundern, dass sich in den westlichen Gesellschaften erste Zeichen von Massenpsychose zeigen. Das, was heute von den ursprünglichen Festen übriggeblieben ist – oben erwähnte Feierlichkeiten nebst Kreuzfahrten, Partys und Nachtclubs – ist Teil des Spektakels und liegt nicht außerhalb davon. Was das Burning-Man-Festival und andere spirituelle Kunst- und Musikfestivals angeht, so haben diese etliche der ureigenen Funktionen des Festes erfüllt – bis sie vor Kurzem auf die Onlineplattformen verbannt und somit jeglicher Transzendenz beraubt wurden. So sehr sich die Organisatoren auch bemühen, den Geist des Festivals am Leben zu halten, so laufen doch alle Online-Festivals Gefahr, sich in eine Show zu verwandeln, die nicht mehr ist als ein Konsumprodukt. Man klickt sich ein, lehnt sich zurück und schaut zu. Festivals in Fleisch und Blut sind anders. Sie beginnen mit einer Reise, dann muss man sich einer Tortur unterziehen (stundenlanges Anstehen). Endlich gelangt man zum Eingangstempel (der Registrierung bei Einlass), wo ein kleines Wahrsageritual (Überprüfung der Teilnehmerliste) darüber entscheidet, ob man zur Teilnahme berechtigt ist (nämlich, wenn man im Vorfeld eine entsprechende Opfergabe getätigt hat – die Zahlung). Schließlich verleiht der Priester oder die Priesterin im Eingangstempel dem Zelebranten einen besonderen Talisman, den er stets an seinem Handgelenk zu tragen hat. Nach all dem begreift das Unterbewusstsein, dass man sich nun in einem Reich befindet, in dem tatsächlich, zumindest zu einem gewissen Grad, die gewohnten Unterscheidungen, Beziehungen und Regeln nicht gelten. Online-Events finden in der Sicherheit der eigenen vier Wände statt. Was auch immer geboten wird, der Körper erkennt, dass das nur eine Show ist.

Allgemeiner ausgedrückt: Das Eingesperrtsein, das Abgesperrtsein und das Ausgesperrtsein in der stark kontrollierten Internet-Umgebung macht die Bevölkerung verrückt. Mit „kontrolliert“ meine ich hier nicht die Zensur, sondern vielmehr die körperliche Erfahrung, im Sitzen Abbildungen der Wirklichkeit zu betrachten, denen jegliche taktile oder kinetische Dimension fehlt. Im Netz gibt es so etwas wie Risiko nicht. Ok, natürlich kann jemand deine Gefühle verletzen, deinen Ruf zerstören oder deine Kreditkartennummer stehlen, aber all das bewegt sich im Rahmen des kulturellen Dramas. Es ist eine andere Dimension, wenn man auf glitschigen Felsen einen Fluss überquert, durch die sengende Hitze wandert oder einen Nagel ins Holz hämmert. Da die konventionelle Wirklichkeit des Menschen künstlich ist, braucht er regelmäßig Bezug zu einer Wirklichkeit, die nicht-konventionell ist, um bei Verstand zu bleiben. Dieser Hunger nach nicht vorprogrammierten, wilden, echten Erfahrungen – nach wirklicher Nahrung für die Seele – verstärkt sich unter der modernen Diät von Pauschalreisen, Online-Abenteuern, schulischem Lernen, sicheren Freizeitaktivitäten und Konsumangeboten.

In Ermangelung echter Festivals entladen sich die angestauten Bedürfnisse in Form einer anderen Art spontaner Festivals, die dem Girard‘schen Muster folgen. Solche Festivals nennt man auch Krawalle. Wie bei echten Festivals werden auch bei Krawallen die üblichen Verhaltensregeln umgestoßen. Grenzen und Tabus in Bezug auf Privateigentum, Hausfriedensbruch, die Nutzung von Straßen und öffentlichen Räumen usw. lösen sich für die Dauer des „Festivals“ auf. Diese Inszenierung gesellschaftlichen Zerfalls gipfelt entweder in regelrechten Massenausschreitungen oder in irgendeiner Art von kathartischer Pseudo-Gewalt (die leicht in echte Gewalt umschlagen kann). Ein Beispiel dafür ist das Umstürzen von Denkmälern, ganz klar ein Ritual, bei dem symbolische Handlungen an die Stelle echter Handlungen treten. Ja, ich verstehe die Gründe für diese Handlungen (um Narrative zu demontieren, die Symbole der weißen Vorherrschaft beinhalten und so weiter), aber ihre Hauptfunktion ist die einer vereinenden Ausübung symbolischer Gewalt. Diese kathartische Entladung sozialer Spannungen trägt wohl kaum dazu bei, die tieferliegenden Ursachen für diese Spannungen zu verändern. Und somit trägt sie dazu bei, sie aufrechtzuerhalten.

Als ich in den frühen 2000er Jahren an einer Universität unterrichtete, wurde mir die festliche Dimension von Krawallen bewusst. Einige meiner Studenten waren damals nach dem Sieg ihrer Heimmannschaft im Basketball an Krawallen beteiligt. Es begann als Feier, aber schon bald schlugen sie Fensterscheiben ein, stahlen Straßenschilder, hängten Türen aus den Angeln und verstießen auf andere Weise gegen die gesellschaftliche Ordnung. Diese Verstöße nahmen durchaus auch eine kreative Form an, die an Straßenkarneval erinnerte. Ein Student erzählte später, er habe einen riesigen „Stinkefinger“ aus Schaumstoff gebastelt und ihn stolz durch die Stadt getragen. „Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so viel Spaß“, sagte er. Im Gegensatz zu irgendwelchen seichten, kastrierten Feiertagen war das hier ein authentisches Fest, das geboren werden wollte. Und es war nicht ungefährlich. Menschen wurden dabei verletzt. Ein echtes Fest ist eine ernste Angelegenheit. Die herkömmlichen Gesetze und Bräuche, Moral und Konventionen gelten hier nicht. Es kann seine eigenen entwickeln, die aber entstehen organisch und nicht auf Anordnung von Autoritäten der normalen, konventionellen Ordnung – sonst ist es kein echtes Fest. Ein echtes Fest ist im Wesentlichen ein wiederholter, ritualisierter Aufruhr, der seine eigene Mustersprache entwickelt hat.

Je eingeschränkter, überwachter und regulierter eine Gesellschaft, desto weniger Toleranz gibt es für alles, was außerhalb der Ordnung liegt. Letztendlich bleibt dann nichts als ein Mikro-Fest – der Witz. Die Dinge nicht so ernst zu nehmen bedeutet, außerhalb deren Realität zu stehen; es gibt für einen Moment die Bestätigung, dass all dies gar nicht so real ist, wie wir denken, dass es noch etwas außerhalb davon gibt. In einem Witz liegt viel Wahrheit, dieselbe Wahrheit wie in einem Fest. Er gewährt eine Verschnaufpause von der totalen Begrenzung durch die konventionelle Wirklichkeit. Das ist auch der Grund, weshalb totalitäre Bewegungen strikt gegen Humor sind, außer wenn es sich um die Art von Humor handelt, der ihre Gegner erniedrigt und verspottet. (Spöttischer Humor, wie beispielsweise rassistischer Humor, ist in Wahrheit ein Instrument der Entmenschlichung, eine Vorstufe des Sündenbockdenkens.) In der ehemaligen Sowjetunion konnte man im Gulag landen, wenn man den falschen Witz erzählte. Im selben Land waren es ebenfalls Witze, die die Menschen bei Verstand hielten. Humor kann zutiefst subversiv sein – nicht nur, weil er die Obrigkeiten lächerlich erscheinen lässt, sondern indem er die Realität, die sie durchzusetzen versuchen, auf die leichte Schulter nimmt.

Weil er die konventionelle Realität untergräbt, ist Humor auch ein grundlegendes Friedensangebot. Die Botschaft ist: „Lasst uns unsere Gegensätze nicht so wichtig nehmen.“ Das soll nicht heißen, dass wir die ganze Zeit Witze reißen sollten, um Nähe zu vermeiden und von den Rollen abzulenken, die wir uns im Drama der menschlichen sozialen Erfahrung zu spielen bereit erklärt haben, und ebenso wenig sollte das Leben ein endloses Fest sein. Da aber Humor wie eine Art Mikro-Fest funktioniert und uns mit einer transzendenten Wirklichkeit in Verbindung hält, ist eine Gesellschaft mit gutem Humor höchstwahrscheinlich eine gesunde Gesellschaft, die nicht in Opfergewalt abzugleiten braucht. Eine Gesellschaft, die versucht, ihre Witze in politisch korrekte Formen zu pressen, muss hingegen mit denselben „unheimlichen und schrecklichen“ Folgen rechnen wie eine Gesellschaft, die ihre Feste gezähmt hat. Humorlosigkeit ist ein Anzeichen dafür, dass eine Opferkrise droht.

Der Verlust der geistigen Gesundheit durch die Beschränkung auf eine unwirkliche Welt ist an sich eine Girard’sche Opferkrise, deren wesentliches Merkmal gruppeninterne Gewalt ist. Man könnte annehmen, dass Online-Interaktionen, bei denen letztlich nur verletze Gefühle auf dem Spiel stehen, weniger anfällig für Konflikte seien als persönliche Beziehungen. Aber natürlich ist das Gegenteil der Fall. Man kann das so verstehen, dass ohne eine transzendente Perspektive außerhalb des geordneten, konventionellen Bereichs des „Lebens“ triviale Dinge übergroße Bedeutung bekommen und wir anfangen, das Leben viel zu ernst zu nehmen. Es geht nicht darum, die Existenz unserer Meinungsverschiedenheiten abzustreiten, aber müssen wir darüber wirklich in den Krieg ziehen? Ist die andere Seite, deren Unzulänglichkeiten wir für unsere Probleme verantwortlich machen, wirklich so furchtbar? Wie Girard bemerkt: „Dieselben Kreaturen, die sich im Verlauf einer Opferkrise an die Gurgel gehen, sind durchaus in der Lage, vor und nach der Krise in der relativen Harmonie einer rituellen Ordnung zu koexistieren.“

Wenn man sich die Landschaft der sozialen Medien anschaut, wird deutlich, dass wir uns tatsächlich gegenseitig an die Gurgel gehen, und es gibt keine Garantie dafür, dass dies eine bloße Redewendung bleiben wird, wenn etwas Unheimliches und Schreckliches näher rückt.


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